Monday, October 04, 2010

Moskaupilger

In der Zeit des kalten Krieges bezeichnete man Kommunisten und Sozialisten gerne als "Moskaupilger", manche bekamen auch den mehr oder weniger freundschaftlichen Rat, "nach Moskau abzuhauen". Derartige Aufforderungen sind seit 1989 nicht mehr nötig, die Pilgerfahrt ist salonfähig geworden, wenn auch unter veränderten Vorzeichen.
Die NZZ vom 4.Oktober 2010 berichtet in der Rubrik "Persönlich" und unter dem Titel "Der 'Russefrynd' von Andermatt" über den garantiert bürgerlich denkenden und gewiss auch patriotisch gesinnten Metzgermeister Ferdinand Muheim aus Andermatt, der das Erbe von General Suworow pflegt und deshalb mit dem Orden des Patriarchats von Moskau und mit dem vbon Vladimir Putin geschaffenen "Orden der Freundschaft" ausgezeichnet wurde.
Die private Verbundenheit eines wackeren Mannes aus dem Urserental mit Russland wäre an sich noch kein Anlass zur Kritik, wäre da nicht der gnadenlose Revisionismus der aktuellen russischen Geschichtschreibung,in der u.a. die Auffassung vertreten wird, Suworow habe die Franzosen aus der Schweiz vertrieben, obwohl das Gegenteil der Fall war.
Suworow, zweifellos ein hervorragender Heerführer, mit einer für sein fortgeschrittenes Alter überraschend guten körperlichen Verfassung, war gleichzeitig einer der rücksichtslosesten Menschenschinder der Militärsgeschichte, der seine Truppen extremen Risiken aussetzte, die ihre Kampfkraft so schwächten, dass sie von den zahlenmässig weitaus schwächeren, in einem weit über den Alpenraum auseinandergezogenen Dispositiv agierenden französischen Truppen von General Lecourbe (Claude-Jacques Lecourbe, 1759-1815) relativ leicht kanalisiert und im Schach gehalten werden konnten. Wer die Kriegführung der französischen Truppen im extrem anspruchsvollen alpinen Gelände etwas genauer studiert, ist überrascht, wie gut sie dieses zu nutzen wussten. Hervorragend war offenbar im Gegensatz zu den Koalitionstruppen auch der Nachrichtendienst. Ohne aktive Unterstützung von schweizerischer Seite wäre dies kaum möglich gewesen. Nach dem Ende der Helvetik, vor allem in der Restauration nach 1815, betrachtete man hierzulande lange jene Kräfte, welche die Franzosen unterstützt hatten, einfach als Landesverräter. Dass nicht wenige, wie etwa der Basler Peter Ochs, dies aus Überzeugung und aufgrund der unzweifelhaften Errungenschaften der französischen Revolution taten, wurde aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt. Der unvergessene Markus Kutter hat in seinen Schriften versucht, diese Clichés zu hinterfragen.

Es ist merkwürdig und auch für die schweizerische Historiographie beschämend, dass der Suworow-Kult ein solches Ausmass angenommen hat. Die russische Elite hat offensichtlich die Lehren aus der plumpen Propaganda der stalinistischen Zeit gezogen und weiss die weitverbreitete Ignoranz über die Geschichte der Schweiz während der Helvetik und vor allem während der "Campagne d'Helvétie" von 1799 klug zu nutzen, um wackere Eidgenossen - und die NZZ gleich dazu - in die Verfolgung ihrer Grossmacht-Aspirationen einzuwickeln.
Traurig ist auch das absolute Desinteresse der Intelligentsia Frankreichs unter Nicolas Sarkozy am Rollback der europäischen Geschichte von Osten her.
Das Resultat für die Schweiz als Ganzes ist verheerend: Ignoranz und Desinteresse an historischer Wahrheit bedienen die über 200 Jahre alte Polarität zwischen der tendenziell russophilen Zentral- und Ostschweiz und der frankophilen Nordwest- und Westschweiz. Das ist Gift für den Zusammenhalt der Willensnation.

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